Die Luft in der mit Pflanzen verschwenderisch ausgestatteten Rotunde des Glashauses in Herten ist einfach anders: ein bisschen feuchter und ein bisschen “softer” als normal. Unwillkürlich ist man zum tiefen Einatmen animiert und fühlt sich in einen Luftkurort versetzt. Dabei befindet man sich nicht in einer von der Natur begünstigten Region, sondern am Rande des nördlichen Ruhrgebietes, das nicht unbedingt durch seine gute Luftqualität Schlagzeilen macht.
Stadt im Umbruch
Mit seinen rund 68.000 Einwohnern war die Stadt Herten in den 1990-er Jahren im Umbruch begriffen. In der ehemals größten Bergbaustadt Europas ist mit der Schließung der Zeche Ewald/Hugo die Ära des Bergbaus unwiderruflich zu Ende gegangen. Für die Dynamik des Strukturwandels lassen sich im Stadtgebiet zahlreiche Beispiele finden. Dazu zählen moderne Wohnbauprojekte, das so genannte Zukunftszentrum und das Glashaus. Dieses architektonisch eindrucksvolle Gebäude im Herzen der Stadt beherbergt die Stadtbibliothek und bietet gleichzeitig als Kulturtreff den Bürgern ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm.
Das Glashaus geht auf eine Initiative des Unternehmers Karl-Ludwig Schweisfurth zurück. Anfang der 1990-er Jahre trat er an den damaligen Bürgermeister Willi Wessel mit der Idee heran, einen Kommunikationsort unter Glas zu errichten, und er stellte dafür eine Millionen Mark zur Verfügung. Realisiert wurde das Projekt nach zehn Jahren intensiver Diskussion mit einem Landeszuschuss von weiteren 20 Millionen Mark und sechs Millionen Mark von Seiten der Stadt.
Grünes Kulturzentrum
Für die Planungsgruppe LOG ID aus Tübingen war die Aufgabe in Herten eine Herausforderung. Sie wollte beweisen, dass Solararchitekturgebäude nicht nur Energie sparen, sondern dass sie – neben moderner Technologie – zahlreiche Möglichkeiten der Nutzung, wie zum Beispiel kultureller Art, bieten. Dem Architekten Dieter Schempp und der Planungsgruppe ging es weniger darum, so genannte Nullenergie-Häuser zu konstruieren, die rein technisch orientiert sind. Im Gegenteil sahen die Tübinger ihre Aufgabe darin, für den Menschen zu planen und zu bauen. Das Ziel, so Schempp, müsse ein Gebäude sein, in dem sich der Mensch wohl fühle und die Nutzung der Sonnenenergie selbstverständlich sei. Als ökologischer Ansatz liegt dem Konzept des Glashauses ein gekonntes System von Sonnenlicht, Pflanzen und Fernwärme zugrunde, mit dem in Herten etwa 50 Prozent der Energiekosten eingespart werden. Die wohltuende Wirkung von Pflanzen zeigt sich neben ihrem dekorativen Wert vor allen Dingen in der Verbesserung der Luftqualität. So wird die Abluft aus der Bibliothek zunächst in die Rotunde geleitet, wo die Pflanzen sie mit Sauerstoff anreichern und Schadstoffe binden, bevor die Luft in die Leseräume zurückströmt.
Prima Klima
Dank der gläsernen Bauweise bietet die Bibliothek in Herten ihren Besuchern in allen vier Etagen helle und freundliche Leseecken. Besonders erfrischend ist es, der Leseleidenschaft auf den Innenbalkonen in der Rotunde nachzugehen und das ausgezeichnete Klima zu genießen. Im Winter liegen die Temperaturen bei etwa 22 Grad Celsius, im Sommer klettern sie bei Sonneneinstrahlung auch schon einmal auf 30 Grad Celsius. Dann werden die Türen und Lüftungsklappen geöffnet. Wie sehr dieses Konzept funktioniert, zeigen die Reaktionen der Besucher und Mitarbeiter des Hauses: Sie empfinden die Atmosphäre als sehr angenehm.
Von Anfang an dabei: Pflanzen
Pflanzen spielen bei der “grünen Solararchitektur” eine wesentliche Rolle. Sie sind von Anfang an Teil der Planung und müssen auf das jeweilige Gebäude abgestimmt werden. Im Glashaus herrschen, so Schempp, relativ gute Lichtverhältnisse, bei denen die ausgewählten tropischen und subtropischen Pflanzen bestens gedeihen. Es ist eine Kunst für sich, bereits in der Planungsphase eines Gebäudes die richtigen Pflanzen auszuwählen. Die Tübinger Architekten hatten für diese Herausforderung eine Lösung gefunden und arbeiten seit 35 Jahren mit dem Leiter des Botanischen Gartens in Tübingen zusammen.
Beim Blick in die gläserne Halle erregen an den Balkonbrüstungen der Galerien Gefäße aus Edelstahl die Aufmerksamkeit. Alle sind üppig mit Hängepflanzen, Zwergsträuchern und Bodendeckern bepflanzt. Bei Veranstaltungen, von denen es im Jahr rund 500 gibt, dienen die Galerien als Zuschauerlogen und erlauben aus luftiger Höhe den Blick auf die gesamte Bepflanzung. An den sonnigen Außenseiten befinden sich vor allem schmalblättrige, teilweise grausilbrige, lichthungrige Arten, die ohne Sonnenschutz hervorragend gedeihen. Der Bibliothek, dem Foyer und dem Bistro zugewandt, fallen vor allem mittel- bis dunkelgrüne, aber auch Pflanzen mit hellen Blättern auf. Wir finden beispielsweise Eucalyptus sideroxylon, Grevillea robusta (Australische Silbereiche) und die Bergaralie (Oreopanax nymphaefolia) aus Guatemala, die Durchblicke in die Rotunde erlauben. Für die Pflege der Pflanzen sind städtische Gärtner verantwortlich. Im Abstand von 14 Tagen sammeln sie welkes Laub ab und schneiden die Pflanzen wenn nötig zurück. Da das Glashaus über eine automatische Bewässerungsanlage verfügt, ist der Zeitaufwand für die Gärtner nicht sehr groß.
Außergewöhnliches Erlebnis
“Grüne” Konzertsäle sind nicht die Regel, und Rundbauten sind dafür bekannt, dass ihre Akustik schwer in den Griff zu bekommen ist. Die Allianz von Glas und Pflanzen hat sich in diesem Gebäude jedoch als segensreich erwiesen. Man musste keinerlei zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um die Akustik des Raumes zu verbessern. Durch die Pflanzen, die mit ihren Blättern den Schall brechen und ihn reflektieren, ist sie so gut, dass der WDR den Raum seit einigen Jahren als Sendeort nutzt.
Positive Resonanz
Was die Akzeptanz des Gebäudes in der Bevölkerung der Mittelstadt betrifft, war das Glashaus am Anfang sehr umstritten. “Niemand wollte es haben”, so der Architekt Dieter Schempp. Für den Geschmack der Einwohner sei es wohl eher eine Liebe auf den dritten Blick. Der Baustil sei zu weit entfernt vom klassischen Saalbaubetrieb, zu modern und wohl fünf bis sechs Jahre der Zeit voraus, verdeutlicht der Wirt des Bistros die Situation. Doch im Laufe der Jahre hat sich die Einstellung der Bürger grundlegend geändert. Längst hat das Glashaus als Bibliothek und Kulturzentrum einen guten Ruf, auch weit über die Grenzen der Stadt hinaus.